Komplexe sind kein Zufall
Wenn Marketing Vereinfachung komplex macht
Komplexe sind kein Zufall und sie entstehen selten aus dem Nichts. Sie entstehen dort, wo Normen wirken. Dieser Artikel betrachtet das Thema aus Sicht des Ethno-Marketings und aus der Perspektive bi-kultureller Grenzgänger, die gelernt haben, zwischen zwei Betriebssystemen zu leben.
Ein grünes X verdeckt das Gesicht einer Frau, die ernst in die Kamera blickt.
Zu Anfang die Fakten.
Ein erheblicher Teil der deutschen Gesellschaft lebt mit Migrationserfahrung oder bi-kultureller Prägung.
Insgesamt sprechen wir von ca.
21%
Deutschen mit Migrahintergrund
Davon haben in Deutschland ca.
2,9 Mio
türkischen Hintergrund
Von den 2,9 Mio Deutsch-Türken sind ca.
38%
in der 2. Generation in Deutschland
Unser Vodcast
Sibel und ich philosophieren in unserem Vodcast über unsere Bachelor Thesen und die Sinnhaftigkeit des Ethno-Marketing.
Marketing im Kontext bi-kultureller Menschen.
Dieser Artikel betrachtet Marketing als ein System, das Wirkung durch Vereinfachung erzeugt. Er fragt, was passiert, wenn diese notwendige Reduktion von Komplexität auf bi-kulturelle Lebensrealitäten trifft, die zwischen mehreren normativen Systemen verortet sind.
Komplexe. Why?
Komplexe werden oft als etwas sehr Persönliches verstanden. Als innere Unsicherheit. Als individuelles Thema. Als etwas, das mit Selbstbewusstsein, Resilienz oder persönlicher Entwicklung zu tun hat. Diese Sicht ist nicht falsch. Aber sie greift zu kurz. Denn Komplexe entstehen nicht isoliert. Sie entstehen dort, wo Menschen sich permanent vergleichen müssen. Mit Bildern. Mit Normen. Mit Erwartungen. Mit Vorstellungen davon, was als richtig, normal oder erstrebenswert gilt.
Marketing spielt in diesem Prozess eine zentrale Rolle. Nicht, weil es Komplexe erschafft. Sondern weil es Normen sichtbar macht, wiederholt und stabilisiert. Besonders verstärkt wirkt dieser Mechanismus bei Menschen, die sich nicht innerhalb eines einzigen Normsystems bewegen, sondern zwischen mehreren. Wie etwa bi-kulturelle Deutsche. Menschen, die nicht entweder das eine oder das andere leben, sondern sich dauerhaft dazwischen orientieren.
Ein Leben, zwei Betriebssysteme
Bi-kulturell aufzuwachsen bedeutet selten, zwischen zwei Kulturen zu wechseln. Es bedeutet, zwei Betriebssysteme gleichzeitig auszuführen. Zuhause gelten da andere Codes als draußen. Andere Vorstellungen von Erfolg, Körper, Auftreten und Zugehörigkeit. Was im einen System als selbstverständlich gilt, wird im anderen kommentiert, bewertet oder infrage gestellt. Das Spannungsfeld entsteht dabei nicht durch Vielfalt. Es entsteht durch den permanenten Abgleich.
Während viele Menschen ihre Identität innerhalb eines relativ stabilen Normrahmens entwickeln, wie beispielsweise Deutsche in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, bewegen sich bi-kulturelle Menschen oft gleichzeitig in mehreren. Genau darin liegt der Unterschied. Der Wechsel zwischen zwei Kulturen, also das zeitweise Anpassen an kulturelle Codes, fällt vergleichsweise leicht. Wenn man als Deutscher in den Urlaub fährt, verlangt das höchsten temporäre Anpassung für die Zeit des Urlaubes selbst.
Das permanente Laufen zweier kultureller Betriebssysteme bei Menschen mit Migrationshintergrund hingegen kostet Energie. Permanent. Es verlangt kognitive und emotionale Anpassung. Ständige Wechselwirkung. Und häufig wird von außen Perfektion im Verständnis beider Systeme erwartet. Nicht entweder/oder. Sondern und/und. Komplexe entstehen hier nicht nur durch Abweichung von einer Norm, sondern durch das gleichzeitige Wirken mehrerer Normen.
Manche Komplexe entstehen nicht aus einem Mangel. Sondern aus einem Zuviel an Normen.
Wenn Signale nicht ankommen
Dieses permanente Dual-System erfordert nicht nur kognitive und emotionale Anpassung, sondern auch den kontinuierlichen Abgleich mit dem Umfeld. Signale werden gesendet. Reaktionen empfangen. Und in einem kausalen Zusammenhang bewertet. Und genau in diesem Bewerten liegt eine zentrale Quelle von Komplexen: Passen ausgesendete Signale, unabhängig von ihrer Intention, nicht zu den Erwartungen des Gegenübers, entsteht Dissonanz. Unterschiedliche kulturelle Lesarten führen zu Zweifeln.
Diese Zweifel werden selten bewusst analysiert. Sie werden gespürt. Und was gespürt wird, verfestigt sich. Zu Meinungen über andere. Aber auch zu Meinungen über sich selbst. Im schlimmsten Fall entstehen daraus Komplexe, die Überzeugung, den Anforderungen nicht zu genügen. Nicht hier. Nicht dort. Nirgends ganz.
Ein schleichender Prozess
Komplexe entstehen selten plötzlich. Sie entstehen schleichend. Durch Wiederholung. Ein bestimmtes Bild von Schönheit, das immer gleich aussieht. Ein bestimmtes Bild von Erfolg, das immer gleich erzählt wird. Eine Vorstellung davon, wie ein Körper, ein Lebensstil oder eine Karriere auszusehen hat.
Der Mechanismus ist dabei ebenso simpel wie wirksam:
  • Vergleich.
  • Bewertung.
  • Wiederholung.
  • Verinnerlichung.
Irgendwann wird aus dem äußeren Maßstab ein innerer. Aus Beobachtung wird Selbstbeurteilung. Aus einem Bild wird ein Urteil über sich selbst. Komplexe sind deshalb kein persönliches Versagen. Sie sind das Ergebnis von Kontexten, die wir uns nicht ausgesucht haben.
Warum Marketing vereinfachen muss
Marketing arbeitet genau mit diesen Kontexten. Es richtet sich nicht an Individuen. Es richtet sich an Gruppen. Um Wirkung zu erzielen, muss es Komplexität reduzieren. Lebensrealitäten werden verdichtet. Erfahrungen gebündelt. Eigenschaften hervorgehoben. Aus Vielfalt werden Bilder. Aus Vielschichtigkeit werden klare Botschaften.
Diese Vereinfachung ist keine Schwäche. Sie ist Voraussetzung für Verständlichkeit, Wiedererkennbarkeit und Identifikation. Ohne Reduktion gäbe es keine klare Ansprache, keine Orientierung, keine Wirkung. Marketing lebt davon, Wesentliches sichtbar zu machen und anderes auszublenden um so eine Gruppe von Menschen zu erreichen.
Wenn Vereinfachung Identifikation schafft und ausschließt
Doch jede Vereinfachung hat eine Kehrseite. Wenn Marketing bestimmte Eigenschaften betont, um eine Zielgruppe zu erreichen, grenzt es andere automatisch aus. Das ist gewollt. Denn Identifikation funktioniert immer über Abgrenzung.
Ein Beispiel macht das greifbar: Eine Kampagne für eine neue Badekollektion zeigt normativ schöne, schlanke Körper. Nicht aus böser Absicht, sondern weil diese Körper mehrheitsgesellschaftlich als attraktiv und erstrebenswert gelten. Die Botschaft wird nicht ausgesprochen. Aber sie wirkt. Wer sich im Bild wiederfindet, fühlt sich angesprochen. Wer davon abweicht, fühlt sich ausgeschlossen. Nicht bewusst. Nicht immer reflektiert. Aber wirksam.
Normative Bilder und ihr Nebeneffekt
Diese Form der Exklusion ist kein Fehler im System Marketing. Sie ist ein struktureller Nebeneffekt normativer Kommunikation. Denn Normen schaffen Orientierung. Sie definieren Zugehörigkeit. Sie sorgen für einen perfekten Fit zur Zielgruppe. Doch durch Wiederholung verfestigen sich diese Bilder. Sie werden zur Referenz, zur Normalität. Und genau hier beginnt der Übergang von Kommunikation zu Wirkung.
Warum Exklusion in der Mehrheitsgesellschaft abgefedert wird
In der Mehrheitsgesellschaft wird diese Exklusion häufig relativiert. Wer sich nicht mit dem dargestellten Körper identifiziert, findet andere Anschlussstellen. Vertraute Codes. Ein geteiltes Verständnis von Nacktheit. Ein kulturelles Einvernehmen darüber, was Badebekleidung bedeutet.
Der Körper passt vielleicht nicht. Aber der Kontext schon. Die Reduktion von Komplexität wirkt hier insgesamt entlastend. Sie bietet weiterhin Orientierung. Sie reduziert immernoch Unsicherheit. Sagen wir es klar: Die Exklusion bleibt begrenzt.
Wenn Exklusion doppelt wirkt
Anders verhält es sich bei Menschen, deren Lebensrealität nicht nur innerhalb eines Normsystems stattfindet. Bi-kulturell sozialisierte Menschen gehören zwar im besten Fall zur Mehrheitsgesellschaft, doch gleichzeitig zu einem weiteren kulturellen System mit anderen Codes, anderen Erwartungen, anderen Bedeutungen.
Im Beispiel der Badekampagne wirkt Exklusion daher auf zwei Ebenen: Eine verschleierte Deutsche mit Migrationshintergrund kann sich weder mit dem dargestellten Körper identifizieren noch mit der Darstellung von Nacktheit selbst.
Körperliche Norm. Kulturelle Norm. Zwei Ebenen der Nicht-Identifikation. Gleichzeitig weiß diese Person, dass sie eigentlich ein Teil dieser Gesellschaft ist. Dass sie damit eigentlich kein Problem haben sollte. Aber die Betonung liegt auf sollte.
Ethno-Marketing. Zwischen Potenzial und Vereinfachung
Ethno-Marketing entsteht aus dem Versuch, dieser Realität gerecht zu werden. Und genau hier liegt sein Potenzial. Denn Ethno-Marketing kann mehr als Übersetzung. Es kann mehr als Anpassung. Es kann mehr als Zielgruppenansprache. Aber nur dann, wenn es nicht vereinfacht.
Zu oft wurde bisher Identität auf Herkunft reduziert. Zu oft wurde Kultur zur Kulisse. Und es entstanden neue Stereotype, wo eigentlich Differenzierung nötig gewesen wäre. Dann verstärkt Ethno-Marketing genau das, was es eigentlich auflösen könnte. Eine weitere Norm. Ein weiteres Bild. Ein weiteres Ideal. Bi-kulturelle Identität ist aber kein Entweder/oder. Sie ist ein Dazwischen. Ethno-Marketing kann dieses Spannungsfeld sichtbar machen. Nicht als Widerspruch. Sondern als Realität. Wenn sie verstanden hat, worum es geht.
Mit Macht kommt Verantwortung
Marketing kann mehr sein als ein Verstärker von Maßstäben. Es kann Räume öffnen. Vielfalt zeigen, ohne sie zu erklären. Identität zulassen, ohne sie festzuschreiben. Marketing formt Bilder. Bilder formen Selbstbilder. Und manche Selbstbilder begleiten Menschen ein Leben lang. Das ist keine moralische Frage. Das ist eine Wirkungskette. Und genau dort beginnt Verantwortung.
Eine Frau schaut mit einem großen grünen X über ihrem Gesicht direkt in die Kamera.
Marketing! I know!
Marketing trägt Verantwortung. Nicht, weil es allmächtig ist. Sondern weil es wirkt. Es kann Komplexe verstärken. Oder Räume öffnen. Nicht durch gute Absichten. Sondern durch bewusste Gestaltung.
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