Bi-kulturell aufzuwachsen bedeutet selten, zwischen zwei Kulturen zu wechseln. Es bedeutet, zwei Betriebssysteme gleichzeitig auszuführen. Zuhause gelten da andere Codes als draußen. Andere Vorstellungen von Erfolg, Körper, Auftreten und Zugehörigkeit. Was im einen System als selbstverständlich gilt, wird im anderen kommentiert, bewertet oder infrage gestellt. Das Spannungsfeld entsteht dabei nicht durch Vielfalt. Es entsteht durch den permanenten Abgleich.
Während viele Menschen ihre Identität innerhalb eines relativ stabilen Normrahmens entwickeln, wie beispielsweise Deutsche in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, bewegen sich bi-kulturelle Menschen oft gleichzeitig in mehreren. Genau darin liegt der Unterschied. Der Wechsel zwischen zwei Kulturen, also das zeitweise Anpassen an kulturelle Codes, fällt vergleichsweise leicht. Wenn man als Deutscher in den Urlaub fährt, verlangt das höchsten temporäre Anpassung für die Zeit des Urlaubes selbst.
Das permanente Laufen zweier kultureller Betriebssysteme bei Menschen mit Migrationshintergrund hingegen kostet Energie. Permanent. Es verlangt kognitive und emotionale Anpassung. Ständige Wechselwirkung. Und häufig wird von außen Perfektion im Verständnis beider Systeme erwartet. Nicht entweder/oder. Sondern und/und. Komplexe entstehen hier nicht nur durch Abweichung von einer Norm, sondern durch das gleichzeitige Wirken mehrerer Normen.
Manche Komplexe entstehen nicht aus einem Mangel. Sondern aus einem Zuviel an Normen.