Leistung als ExistenzBerechtigung
Anerkennung. Warum sie für Migras doppelt belegt ist
Anerkennung ist kein neutrales Feedback. Für viele Migras ist sie doppelt belegt. Sie betrifft nicht nur Leistung, sondern Zugehörigkeit. Dieser Text geht der Frage nach, warum Anerkennung für Menschen mit Migrationsgeschichte oft schwerer wiegt. Und was das mit Herkunft, Arbeit und Identität zu tun hat.
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Leben im Wartemodus
Wir sind Migras. Kinder einer Generation von Menschen mit einem anderen Kulturset, die vor rund siebzig Jahren in dieses Land kamen, um als Arbeitskraft zu dienen. Sie übernahmen Tätigkeiten, für die es in der Mehrheitsgesellschaft entweder keine Kapazitäten gab oder kein Interesse.
Das ist normal. Das ist nachvollziehbar. Und es ist Teil unserer Geschichte. Viele unserer Eltern mit Migrationsgeschichte kamen nicht, um anzukommen. Sie kamen, um zu arbeiten. Für eine Zeit.
Die Botschaft von außen war klar: Du bist hier gebraucht, aber nicht gemeint. Gesellschaftlich bedeutete das Arbeitskraft ja, Zugehörigkeit nein. Persönlich wie beruflich. Wer so lebt, richtet sein Leben nicht auf Dauer ein. Man funktioniert, passt sich an, erfüllt Erwartungen. Aber man baut kein Zuhause im eigentlichen Sinne. Aus dieser Erfahrung entsteht ein Leben im Wartemodus. Man ist da, aber innerlich immer bereit, wieder zu gehen.
Leben im Provisorium
Wer davon ausgeht, dass sein Aufenthalt vorübergehend ist, lebt anders. Man investiert nicht in langfristige Zugehörigkeit, sondern in Anpassung. Nicht bewusst, sondern geprägt durch die eigene Sozialisierung. Man lernt, wie Dinge funktionieren, ohne sie infrage zu stellen. Man nimmt an, was möglich ist, und verzichtet auf das, was Ansprüche erfordern würde. Beziehungen bleiben funktional, Entscheidungen vorsichtig, Erwartungen niedrig.
Dieses Leben im Provisorium ist kein Mangel an Ambition. Es ist eine logische Reaktion auf eine Gesellschaft, die duldet, aber nicht einlädt. Getragen von der dauerhaft präsenten Überzeugung: Wir sind nicht hier, um zu bleiben. Was macht das mit Menschen. Mit dem Wissen, geduldet zu sein. Mit der unterschwelligen Botschaft: Du bist gut genug, um zu arbeiten. Aber nicht genug, um Teil unseres Raumes zu werden.
Kultur als Schutzraum
Wenn ein Mensch dauerhaft spürt, dass er nur geduldet ist, sucht er Sicherheit dort, wo sie verlässlich ist. Für viele unserer Eltern war das die eigene Kultur. Sprache, Werte, Rituale und Familie wurden zu einem inneren Raum, der Stabilität bot, wenn die äußere Gesellschaft diese nicht geben konnte.
Zur gefühlten Wahrheit gehörte dabei, dass man in Deutschland zwar gebraucht war, aber nicht wirklich erwünscht. Arbeiten ja, aber bitte unsichtbar. Gern in Räumen, die man im Alltag nicht sah. Die Arbeit sollte erledigt werden. Die Menschen dahinter möglichst nicht sichtbar sein. Eine widersprüchliche Erwartung, die tief in kolonialen Denkmustern verankert war. Man wollte das Ergebnis sehen, nicht die, die es möglich machten.
Hinzu kam eine weitere Ambivalenz. Einerseits wurde signalisiert, man solle sich nicht zu sehr integrieren. Es war politisch nicht vorgesehen, dass diese Menschen bleiben. Andererseits erwartete die Mehrheitsgesellschaft Anpassung. Am besten deutsch wirken. Aber bitte nicht so sichtbar, dass diese Erwartung überhaupt erst ausgesprochen werden musste. Ein Widerspruch, der politisch nicht aufgelöst und gesellschaftlich nie ehrlich verhandelt wurde.
Das Festhalten an der eigenen Kultur war vor diesem Hintergrund kein Zeichen von Abgrenzung oder Integrationsverweigerung. Es war eine Schutzreaktion. Ein Versuch, Würde zu bewahren in einer Situation, in der Zugehörigkeit weder angeboten noch klar verwehrt wurde. Wer zugleich unsichtbar bleiben und sich anpassen soll, entwickelt Strategien, um sich selbst nicht zu verlieren.
Die Kinder im Spannungsfeld
Die Kinder wachsen in diesem Provisorium auf, ohne es selbst gewählt zu haben. Sie sind hier geboren oder aufgewachsen. Für sie ist dieses Land kein Arbeitsort auf Zeit, sondern Lebensrealität. Und trotzdem erben sie etwas von ihren Eltern. Nicht die Geschichte im Detail, aber den inneren Zustand.
Diese Weitergabe ist nicht beabsichtigt. Sie geschieht leise. Über Haltung. Über Vorsicht. Über das, was gesagt wird. Und über das, was nicht gesagt wird. Eltern wollten ihre Kinder schützen. Doch genau dieser Schutz trägt die Erfahrung des Provisoriums weiter.
Die Kinder spüren früh, dass Zugehörigkeit fragil ist. Dass man sich anpassen muss, ohne sich zu sehr auszubreiten. Dass Sichtbarkeit ambivalent ist. Fehler wirken riskanter. Auffallen fühlt sich gefährlicher an. Die unausgesprochene Botschaft lautet: Du darfst hier sein, aber mach es richtig. Und vor allem, mach es besser.
Leistung als Strategie
Wenn Anerkennung unsicher ist, wird Leistung zur Strategie. Nicht aus Ehrgeiz. Sondern aus dem Bedürfnis nach Stabilität. Leistung scheint berechenbar. Sie lässt sich zeigen. Sie lässt sich erklären.
Für viele Migras wird Leistung zur Sprache. Zur Art, wie man sich legitimiert. Wie man beweist, dass man hier richtig ist. Nicht, um herauszustechen, sondern um nicht angreifbar zu sein. Anerkennung wird damit konditional. Solange die Leistung stimmt, stimmt auch die Anerkennung.
Der innere Preis
Was als Strategie beginnt, wird mit der Zeit zum inneren Maßstab. Leistung wird zur Identität. Anerkennung bestätigt nicht, sie prüft. Der Wettbewerb findet im Inneren statt. Bin ich genug? Reicht das? Darf ich mir einen Fehler erlauben?
Der Preis zeigt sich in Erschöpfung. In Selbstzweifeln. In der Schwierigkeit, sich selbst unabhängig von Leistung als wertvoll zu erleben. Anerkennung beruhigt nicht. Sie bleibt an Bedingungen geknüpft.
Anerkennung als doppelte Bedeutung
Anerkennung ist für viele Migras mehr als Wertschätzung. Sie ist zugleich Beweis. Nicht nur für gute Arbeit, sondern für Zugehörigkeit. Sie berührt Leistung und Identität gleichzeitig.
Deshalb ist Anerkennung doppelt belegt. Ihr Ausbleiben stellt nicht nur Arbeit infrage, sondern nimmt Sicherheit. Nicht, weil Migras empfindlicher sind. Sondern weil ihre Geschichte gelehrt hat, dass Anerkennung selten selbstverständlich ist.
Vielleicht beginnt echte Anerkennung genau dort, wo sie aufhört, Bedingung zu sein. Und anfängt, Gleichwertigkeit auszudrücken.
Erkenntnis als erster Schritt
Bemerkenswert ist, dass diese Zusammenhänge zunehmend im Bewusstsein der zweiten und dritten Generation von Migrakindern ankommen. Vieles, was lange nur gespürt wurde, wird heute benannt. Mein Eindruck ist, dass diese kausalen Verknüpfungen erkannt und aktiv verarbeitet werden.
Das zeigt sich auch in aktuellen Social Media Strömungen. Im wachsenden Selbstbewusstsein, sich zum Anderssein zu bekennen. Mehr noch. Es als prägenden Teil der eigenen Identität anzuerkennen. Nicht als Defizit, sondern als bewussten Faktor der eigenen Persönlichkeit.
Man muss es so klar sagen: Wir sind anders. Aber dieses Anderssein ist kein Makel. Es ist ein Gewinn. Für uns. Für unsere Eltern. Für unsere Kinder. Und für die deutsche Gesellschaft.
Ein tolles Beispiel, dass sich das Bewusstsein für Andersartigkeit weiterentwickelt... nicht in Scham, sondern in Form von Selbstbewusstsein zur Bekenntnis. Resul E. Kizilay, ein Insta-Creator, visualisiert das schön in seinem Video. Link zu seinem Insta: https://www.instagram.com/hey.misterk/ Das Video wurde mit freundlicher Genehmigung von ihm geteilt. Danke dafür Resul. :-)
Anerkennung als Kompensation
Anerkennung ist nicht für alle gleich. Für viele Migras ist sie mehr als Rückmeldung. Sie ist Bestätigung von Zugehörigkeit. Solange Anerkennung an Bedingungen geknüpft bleibt, entsteht kein echtes Ankommen. Vielleicht beginnt Gleichwertigkeit genau dort, wo Anerkennung nicht mehr verdient werden muss.
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